Dienstag, 20. April 2010
Vorboten aus Kandahar ?
Kunduz, so lesen wir, bereitet sich auf eine militärische Aktion im Sommer oder Herbst vor. Die Offensive gegen Taliban in den kritischen Teilen des Nordens, so heisst es in verschiedenen Meldungen und Äusserungen, werde vom Ausmass geringfügiger ausfallen als zur Zeit im Süden; in Geist und Zielrichtung, so wird uns vermittelt, allerdings ähnlich. Nach Marjah (Provinz Helmand), wo die militärische wie aufbaupolitische Bilanz des Eingreifens von mutmaßlich bis zu 15.000 Soldaten noch weitgehend unklar ist, bereiten sich NATO- wie afghanische Streitkräfte in den kommenden Monaten nun auf den Kampf mit Taliban in der Provinz Kandahar vor. Erste Aktionen haben bereits stattgefunden, von beiden Seiten.
Ist all das ein Lackmustest für Kunduz? Welche Anzeichen und Begleiterscheinungen bringt er mit sich? Alex Strick ist einer von wenigen Ausländern, der seit Längerem in Kandahar wohnen und der dort als unabhängiger Forscher arbeitet.
Nachdem er mit seiner jüngsten Buch-Veröffentlichung zwei Moante durch England und die USA getourt ist, findet er eine deutlich veränderte Stadt vor, wie er schreibt:
„Security conditions in the city have worsened considerably. The threat comes not just from the Taliban — who are able to carry out occasional prominent operations and move around the city — but also criminal groups. Kidnappings, robberies, intimidation — these seem to be par for the course for residents inside the city.
‘The surge’ is coming, too, and everyone knows it. Some families are sending women and children away, either to Quetta or to Kabul; those who could afford to do so had mostly done this already. Young people who manage to find work or study opportunities outside Kandahar are staying away.“
Heute wurde der stellvertretende Bürgermeister von Kandahar erschossen. Effektiv und bewundert bei der Zivilbevölkerung sei er gewesen, heisst es in Medienberichten. Mittlerweile aber ist eine Eskalation der Gewalt zu beobachten, die Düsteres für die Wochen vor uns erahnen lässt. Taliban zeichnen verantwortlich für die jüngste Welle von Anschlägen, die neben Repräsentanten des religiösen Lebens auf Politiker und ausländisches Personal wie Berater zielt, sogenannte contractors.
Alex zitiert einen Händler:
„The storm is coming. Believe you me. The storm is coming. I try telling people, but it seems they’re all just making themselves busy with fixing the leaky roof or the squeaky door. The storm will destroy their entire house and city, though. The storm is coming. You have two options: get out now, or climb down into your bunker and hope that the storm will pass and that you’re still alive six months from now.“
Kann oder darf man diesen Eindruck projezieren auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen um Kunduz? Oder soll man es unterlassen? Erscheint es konsequent sich die Frage zu stellen, angesichts der aktuellen Kriegsrethorik in unseren Medien oder nicht ?
Die innenpolitische Debatte in Deutschland über Kunduz verdeckt und vernachlässigt zugleich Nachrichten und Befindlichkeiten in Afghanistan, die wichtig sind, um das grosse Ganze zu verstehen, nicht zuletzt die Stimmung in der Bevölkerung richtig einzuschätzen, deren 'Herzen und Köpfe' erobert werden sollen.
Unverändert gibt es offenbar Unmut in Kunduz bei Hinterbliebenen der Opfer des Luftangriffs vom 4.September. Eine konkrete Entschädigung ist immer noch nicht in Sicht. Eine Gruppe von Angehörigen demonstrierte dieser Tage erstmals vor der Menschenrechtskommission in Kunduz. In deutschen Medien fand dies nicht oder kaum Erwähnung. Überhaupt ist eine bemerkenswerte Stille eingetreten zu dem Thema. 'Der Schmerz über die Opfer dauert an', erzählt mir ein Bekannter aus Kunduz. 'Die Menschen aus Char Dara hatten gehofft wenigstens Präsident Karsai ihre Gefühle und Hoffnungen zu sagen, als dieser vergangene Woche in Kunduz zu Besuch war. Aber es kam zu keinem Treffen, und auch von ihm sind die Menschen jetzt sehr enttäuscht und frustriert.'
Dieser Tage startet eine sehenswerte Fotoausstellung über den Luftangriff von Kunduz und die Opfer. 'Kunduz 4.September 2009' ist eine Zusammenarbeit von Christoph Reuter, dem Journalisten-Kollegen und Stern-Korrespondent in Kabul und dem freien Fotografen Marcel Mettelsiefen. Im Vorwort zur Ausstellung heisst es:
„Am Anfang war die Zahl. Genau genommen war es das Gegenteil jener Genauigkeit, die man mit Zahlen assoziiert: Zwischen „17 und 142 Menschen“ seien in der Nacht zum 4. September 2009 ums Leben gekommen bei dem Luftangriff auf vermeintliche Aufständische im Bezirk Chardara südlich von Kunduz. So der Nato-Untersuchungsbericht Monate später. (...) Doch eines hat weder die Verfasser des Berichtes, noch andere Stellen so recht interessiert: Wen ließ Deutschland da eigentlich umbringen? Wie viele Menschen starben, als die Bomben bei den Tanklastzügen einschlugen, die von Taliban entführt und von der Dorfbevölkerung geplündert worden waren? 17 bis 142. Diese Gleichgültigkeit war für uns der Grund für dieses Ermittlungsarbeit. Über Monate haben wir zusammengetragen, was genau in jener Nacht an der Furt geschah. Wer starb dort? Was trieb jeden Einzelnen zu den Tankwagen, die sich festgefahren hatten? Was fanden seine Angehörigen am nächsten Morgen von ihm? Es stellte ein kompliziertes Unterfangen dar, in einem Bürgerkriegsgebiet ohne funktionierendes Meldewesen zu eruieren, wer an einem bestimmten Tag ums Leben gekommen ist, ja wer von den mutmaßlichen Opfern überhaupt je existiert hat. In zwei Dutzend mehrstündigen Interviews mit den verschiedenen Gruppen aus den betroffenen Dörfern haben wir versucht, alle Details zusammenzutragen, haben Ausweise, Fotos, Wahlregistrierungen aufgenommen und immer wieder die Menschen aus einem Dorf über die Toten in den anderen Dörfern befragt, um eventuellen Versuchen der Manipulation vorzubeugen. Die Frage, wer starb, ließ sich klären: 91 Menschen, männlich, vom Kind bis zum Greis. Fast alle waren zur Furt gekommen, um Treibstoff in ihre mitgebrachten Behältnisse abzufüllen und nach Hause zu tragen. Unmöglich zu klären hingegen bleibt, wer von den Toten Talib oder Zivilist war. Dies schon deshalb, weil die Unterscheidbarkeit eine Fiktion ist. Chardara wird von den Taliban kontrolliert, es gibt Sympathisanten, Opportunisten, Menschen, die aus Angst zu Mitläufern wurden, zig Wesen aus der Zwischenwelt der Grautöne, die in der deutschen Debatte kaum jemand wahrnimmt. (...) Uns geht es nicht darum, alle Opfer post mortem zu guten Menschen zu erklären. Aber Menschen, das waren sie."
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