Freitag, 22. Juli 2011
Enteqal - No easy way out
Tagelang haben afghanische Behörden und das NATO-Militär Versteck gespielt mit den Medien. Dabei kursierte schon seit Tagen das Gerücht, dass Herat – Afghanistans zweitgrößte Metropole mit mehr als einer Million geschätzter Einwohner – an diesem Donnerstag der Verantwortung der afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wird.
Anders als sonst, wenn Militär und Politik sich um symbolträchtige Bilder für die Öffentlichkeit bemühen, gab es keine längeren Bildstrecken in den Abendnachrichten des afghanischen Fernsehens. Im Zentrum und an den Einfahrtsstrassen nach Herat machte erst am Vorabend der „Übergabe“ (afghan. enteqal) ein gewachsenes Polizei- und Armee-Aufgebot auf die Umstände dessen aufmerksam,
was faktisch erst einmal wenig ändert.
„Praktisch bleiben viele Dinge, wie sie sind“, meint Attilio Aleotti. Der stämmige Italiener in Hawai-Hemd vertritt die italienische Entwicklungshilfe in Herat. Er berät den Gouverneur. Vor zwei Monaten wurden Aleotti und seine italienischen Kollegen plötzlich evakuiert, zum 20 Kilometer entfernten Militärflughafen. Völlig überraschend hatten die Taliban an mehreren Orten in der Stadt zugeschlagen.
Hauptziel der Angreifer war das italienische Wiederaufbauteam und seine wenigen hundert Soldaten, die sich mitten im Stadtzentrum hinter Betonwänden und Stacheldraht verschanzt halten und die überwiegend den Bau von Strassen, Schulen und Brunnen in der Stadt anstossen.
Zum ersten und bisher einzigen Mal mußten sie einen mehrstündigen Schußwechsel über sich ergehen lassen, ohne Verluste.
Weil zugleich alle Angreifer umkamen ist offiziell von einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen afghanischen Sicherheitskräften und NATO-Militär die Rede. Leidtragender war einmal mehr die afghanische Zivilbevölkerung. Denn als Ablenkungsmanöver hatte sich auf dem
'Chawk-e-Cinema', dem 'Kinoplatz' von Herat, ein Selbstmord-Attentäter in die Luft gesprengt. Die Bilanz: 15 Tote und Verletzte.
„Das sitzt den Menschen noch in den Knochen“, sagt eine Deutsch-Afghanin, die hier zuhause ist. Den afghanischen Sicherheitskräften schenkt sie wenig Glauben. „Jeder weiß, dass sie schlecht ausgerüstet sind. Wenn es ernst wird, können sie nichts Entscheidendes ausrichten.“
Attilio Aleotti versucht der Übergabe am heutigen Donnerstag dagegen Positives abzugewinnen. „Mich macht es froh. Das ist schließlich das Land der Afghanen“. Soweit er wisse plane auch das italiensche Militär bis 2014 ganz aus Afghanistan abzuziehen.
Ob die 'Übergabe in Verantwortung' in Wirklichkeit eine 'Flucht in Verantwortungslosigkeit' sei, will ein skeptischer Taxifahrer in Herat an diesem Nachmittag von mir wissen. Denn bisher ist die Lage vor allem außerhalb der Städte, die diese Woche 'übergeben' werden, instabil.
In Herat sind es dabei oft kriminelle Gruppen, weniger Fundamentalisten. „Auf sechs Gruppen von Aufständischen kommt eine Gruppe Taliban. Der Rest sind kriminelle Banden“, rechnet ein Lokalreporter vor. Diese gehen, je nach Bedarf, allerdings immer wieder Absprachen mit den Taliban ein.
Entsprechend schwankend sind viele Menschen in Herat. „Die afghanischen Sicherheitskräfte werden es schaffen. In der Stadt, aber nicht außerhalb“, meint Ustad Hasim, ein Universitäts-Dozent. Nicht nur Pakistan sei ein Unsicherheitsfaktor. „Auch der Iran an der Grenze zu Herat unterstützt die Taliban, nicht zuletzt weil die USA hier mit strategischen Vorposten vertreten sind.“ Zahlen über die Stärke der afghanischen wie der US-Armee in Herat sind schwer zu bekommen.„Wir wissen nicht, welche und wieviele Spezialoperationen das US-Militär hier tagtäglich durchführt“, so ein ausländischer Sicherheits-Experte, „ das wissen nicht einmal die europäischen Verbündeten der Amerikaner.“
„Außerhalb der Stadt fehlt es nach wie vor an Polizei und vor allem an ordentlicher militärischer Aufklärung“, meint Abdul Rahman Salahi, der einen Verband der Zivilgesellschaft vertritt. Erst kürzlich wurde ein LkW-Transport mit Sprengstoff-Material vor der Stadt gestoppt, der aus Richtung Kandahar kam. An Bord: 300 Handgranaten und Minen, Sprengstoffgürtel sowie Kabel und Chemikalien zum Bau selbstgemachter Bomben. Weil die Taliban mit Verlusten kämpften, so Experten, gingen sie zu Anschlägen dieser Art über.
Ob die „Übergabe“ an die afghanischen Sicherheitskräfte erfolgreich ist, hängt auch davon ab, ob der Staat in Herat sichtbarer in Erscheinung tritt.
„Für die Menschen ist weniger wichtig, wieviele Polizisten es gibt“, so Attilio Aleotti. „Entscheidend ist, wann endlich ehrliche Beamten in den Amtsstuben sitzen, es Schulen, Stadt- und Gesundheitsbehörden gibt, die ohne Korruption funktionieren“. Zaher Farzizade, der Vorsitzende des Provinzrates, pflichtet ihm bei. „Wir müssen den Graben zu den Bürgern schließen.“
Bislang glauben die Menschen den Behörden nicht einmal Opferangaben bei Anschlägen. „Es werden Zahlen mitgeteilt, die in Wahrheit viel höher liegen“, so Naser, der bei einer deutschen Hilfsorganisation in Herat arbeitet. Immerhin hat das Fernsehen in Herat zehn mutmaßliche Täter gefaßt und der Bevölkerung zur besten Abendbrot-Zeit vor dem Bildschirmen vorgeführt. Es soll als Symbol des Erfolgs herhalten.
(Das Foto zeigt den Pressesprecher des Provinzrats von Herat beim Interview-Termin;
s. auch Der Tagesspiegel)
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